„Wenn ich zur Tür hereinkomme, freut sie sich und lächelt mich an. Das macht mich glücklich“, verrät Anna Kanis. Zwei Mal in der Woche besucht sie eine 92jährige in deren Gaustadter Wohnung. Und tatsächlich strahlen die Augen der Russlanddeutschen, als sie über ihre mehr als 70 Jahre jüngere Betreuerin anerkennend bemerkt: „Die Anna ist bisschen gut.“
Als die Abiturientin Anfang des Jahres von einem Au-pair-Aufenthalt in Irland zurückkam, erkundigte sie sich bei der CariThek des Caritasverbandes im Deutschen Haus nach Möglichkeiten für ehrenamtliche Tätigkeiten. Das Angebot, von der Caritas-Sozialstation betreute pflegebedürftige Menschen zu besuchen, sagte ihr zu, denn sie hatte schon als Kind einen „guten Draht“ zu alten Leuten. Den fachlichen Hintergrund erhielt sie bei einem vor zwei Jahren absolvierten Praktikum im Altenpflegeheim. „Damals habe ich mitgekriegt, wie wenig Zeit das Pflegepersonal für Gespräche hat, an Spazierengehen ist schon gar nicht zu denken. Deshalb engagiere ich mich auch weiter in einem Altenpflegeheim“, berichtet Anna. „Am Anfang sind die Leute zurückhaltend, aber nach der Kennenlern-Phase ändert sich das schnell. Sie freuen sich, wenn sich jemand um sie kümmert.“
Es ist ganz offensichtlich, wie gut die betagte Barbara und die junge Anna sich verstehen. Beide interessieren sich für Geschichte und finden immer ein Gesprächsthema. „Frau Sobert ist sehr offen mir gegenüber, sie erzählt mir viel und hat auch keine Scheu, ihre Emotionen zu zeigen“, erklärt Anna. Beim Spaziergang oder bei einer Tasse Tee lernt sie die Sorgen und Nöte kennen, erfährt interessante Details über das schwere Leben in Russland. Selbst gerade schwanger, kann sie nachfühlen, wie schlimm für Barbara damals bei einem dreijährigen Aufenthalt im Arbeitslager die Trennung von ihrem Baby gewesen sein muss. „Und das alles nur, weil sie die Tochter eines Gutsbesitzers war.“
Eine Erklärung für die gute Beziehung zwischen den Beiden mag sein, dass die alte Dame immer noch so gerne lacht und gar nicht larmoyant ist. Dabei hat sie bereits als Achtjährige und jüngstes von sechs Kindern die Mutter verloren. Auch zwei Ehen waren wegen der politischen Verhältnisse nur von kurzer Dauer. 20 Jahre lang hat Barbara Sobert in Kasachstan Wände gestrichen – „Männer machen das dort nicht“, betont sie. Den Enkeln prägt sie ein, wie wichtig Ehrlichkeit im Leben ist. „Ich war mal sehr lebhaft, hab gern getanzt“, erinnert sich die Seniorin und ein Lächeln huscht über ihre Lippen. „Es geht mir jetzt gut, ich habe eine Wohnung, zu essen, zu trinken und genügend anzuziehen. Aber natürlich ist das Alter da, ich kann nicht mehr stricken und häkeln, nur noch ein bisschen lesen. Ein Glück, dass einer meiner beiden Söhne mit seiner Familie in Bamberg lebt, mich regelmäßig besucht und für mich einkauft. Und wenn Anna kommt, gehen wir raus an die frische Luft. Sie hält mich fest – viel besser als ein Krückstock.“
Das Ehrenamt ist für Anna eine sinnvolle Überbrückung, bevor sie mit ihrer Berufsausbildung beginnt. Auf jeden Fall soll es etwas Soziales werden, vielleicht Familienpflegerin oder Altenpflege, weil sie das auch mit Baby noch ausüben kann. In der Freizeit unternimmt die 21jährige Radtouren, trifft ihre Freunde und liest gern. Ihr Ehrenamt nimmt sie sehr ernst, denn „wenn man einmal versprochen hat zu kommen, muss man das auch regelmäßig tun. Die Alten verlassen sich darauf.“ Barbara Sobert nickt zustimmend: „Mein Leben besteht aus Warten auf den Sohn und Warten auf Anna.“
Renate Steinhorst